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Spaltet Corona die Gesellschaft?
Ist das Virus von den Skiclubs in die Mietskasernen und Behelfsunterküfte und Tavernen gewandert? So fragte „Heute direkt“ in einer Sonntagssendung (Juni 2020) im ZDF.
In der Tat scheint es so zu sein, dass die Aufforderung Abstand zu halten, nicht an jedem Arbeitsplatz und nicht in jeder Unterkunft und jedem Restaurant eingehalten werden kann und eingehalten wird. Es sind, wie oft in der Vergangenheit, die schwierigen Lebensverhältnisse und der Leichtsinn, die das Virus anzuziehen scheinen.
Der Maler Alexandre Hesse hat im Jahr 1832 ein Bild gemalt, das genau diese Misere in Szene setzt: Das Begräbnis des Tizian im Venedig des 16. Jahrhunderts.
Die Pest, damals eine europäische Pandemie, kostete in Venedig 1575/77 46.000 Einwohnern das Leben. Unter ihnen dem größten Sohn der Stadt, Tizian, der berühmten Renaissancekünstler Venedigs. Er war damals der Einzige von allen Pest-Opfern, der ein christliches Begräbnis bekam. Viele der Opfer wurden verbannt auf die „Insel der Verdammten“, wo sie die Pest dahinraffte.
A. Hesse nun malte dieses Bild im Jahr 1832, als die Großmacht Großbritannien gerade die Sklaverei in ihrem Einflussbereich abschaffte und sich damit europaweit Resonanz sicherte.
Wer das Bild von A. Hesse betrachtet, dessen Blick wird nun gerade nicht auf die Bahre Tizians gelenkt. Die Bahre thront links über der Bildmitte. Vielmehr sieht er auf den am Boden liegenden, gerade sterbenden Sklaven.
Hier inszeniert A. Hesse den Skandal: Kaufmannsgesellschaft und Klerus erscheinen im repräsentativen Glanz. Tizian wird auch im Tod der Respekt des Bürgers entgegengebracht.
Ganz anders als den am unteren Bildrand dahinsiechenden Sklaven. Sie sind für A. Hesse die wahren Opfer. Bürger und Klerus halten Abstand. Die Gefahr der Ansteckung ist allgegenwärtig. Auch die anderen Sklaven liegen im Sterben. Die Kaufmannsgesellschaft scheint von dieser Gefahr nicht getroffen zu sein.
A. Hesse klagt an und schärft das Bewusstsein für die Folgen, die den Malerkollegen Tizian, die Bürgergesellschaft Venedigs und die Sklaven am unteren Rand der Gesellschaft in ganz ungleicher Weise treffen.
Wie heute zu Zeiten von Corona, brachte damals 1575/77 in Venedig die Pest-Pandemie sonst gern verdeckte gesellschaftliche Ungleichheit ins grelle Licht der Öffentlichkeit.
Ein absolut aktuelles Bild.